Rede zum 1. Mai: Hierzulande muss hart, viel und ungleich gearbeitet werden

Rede zum 1. Mai von Andrej Marcovic auf dem Landsgemeindeplatz in Zug

Werte Anwesende,

Den 1. Mai feiern wir stolz als gemeinsamen Kampftag. Die anderen 364 Kampftage im Jahr können wir uns hingegen weniger gut aussuchen. In diesem Land mit diesen Machtverhältnissen gilt das erst recht und in einem Wahljahr besonders.

So werden wir dieses Jahr noch viele Werbeflächen sehen, auf denen Wirtschaftsverbände und Bauernverband die Parole gekleistert haben: «Perspektiven statt Wunschdenken». Was sie verlangen, ist: Weniger emanzipatorische Ansichten in der Gesellschaft und mehr Perspektiven für das Kapital.

Was das genau heisst, sehen wir dieser Tage: Der Arbeitgeberverband gibt der Debatte den Takt vor mit einer Liste an Forderungen, die weitreichende Entgrenzungen darstellen. Wer von Erwerbsarbeit lebt, soll in Zukunft mehr arbeiten. Und das obwohl die Zeitmenge steigt, die pro Einwohnerin oder Einwohner dieses Landes für Erwerbstätigkeiten aufgewendet wird.

Wer von Erwerbsarbeit leben muss, soll ein Mehr der eigenen Lebensjahre dafür zur Verfügung stellen müssen. Und das ungeachtet der Schwierigkeiten, denen sich ältere Personen auf dem Arbeitsmarkt gegenübersehen. Wer von Erwerbsarbeit abhängt, soll in Zukunft durchgehend verfügbar werden. Und das in voller Verachtung gegenüber den Folgen, die diese Flexibilisierung für die tatsächlich bestehende Freiheit der Menschen nach sich zieht.

Wer sich bilden möchte, soll dafür mehr zahlen. Damit die Bildung aller noch stärker gemäss der Interessen weniger geplant wird. Und das Wenige, was die Schweiz an Drittbetreuungsmöglichkeiten zugänglich macht, in Anspruch nimmt, soll entsprechend mehr der eigenen Zeit für die Bedürfnisse der Arbeitgeber freiräumen.

All das brauche es, weil zu wenig gearbeitet werde, befindet der Arbeitgeberverband. Was aber arbeiten heisst, blendet er aus. Überhaupt wird Arbeit und was es heisst zu arbeiten, dauernd kleingeredet. Ja, auch hier in der Schweiz, wo «fleissig sein» als Kompliment der Spitzenkategorie gilt. Wo der sprichwörtliche kleine Mann bekanntlich «Büezer» ist.

Aber geleistete Arbeit geht vergessen, wenn gesagt wird: Man habe seine Pizza dank einer App erhalten. Ganz so, als ob nicht jemand das Essen geliefert hätte, um den eigenen Lebensunterhalt zu bestreiten.

Die Härte von Arbeit wird verwedelt, wenn es heisst: Es wäre doch zweckmässiger, wenn auf dem Bau 12 Stunden am Tag und 58 Stunden pro Woche gearbeitet werden würde. Ganz so, als ob eine Person und ihr Umfeld mit den Folgen dieses Rhythmus nicht auch abseits der bezahlten Arbeitszeit zurechtkommen müssten.

Die Dauer von Arbeit wird kleingerechnet, wenn sich Pflegekräfte im Spital umkleiden müssen oder Lehrpersonal Bildungsreformen umsetzen muss, ohne für diesen Aufwand angemessen entlöhnt zu werden. Ganz so, als ob diese Tätigkeiten nicht Teil ihrer Arbeit wären.

Nein, es wird hart, viel und ungleich in diesem Land gearbeitet. Und deshalb wird jegliche Arbeit nicht zuletzt dort unsichtbar gemacht, wo es ungleiche Verhältnisse zu verschleiern gilt.

Gesellschaftlich abverlangte Arbeit wird unsichtbar gemacht, wenn Menschen als faul gebrandmarkt werden, die einen Papierkrieg ausfechten mussten, um ihr Recht auf IV-Rente oder Sozialhilfe wahrzunehmen.

Aufgedrückte Arbeit wird für unerheblich erklärt, wenn gesagt wird, die Mietparteien in diesem Land seien zufrieden mit gesetzeswidrig hohen Mietzinsen, weil sie diese ja nicht von sich aus erfolgreich anfechten würden.

Und keiner Arbeit in diesem Land wird so gewaltreich, so dreist und so hartnäckig die Anerkennung verwehrt, wie jener Arbeit, die Frauen leisten. 60% der unbezahlten Arbeit in diesem Land verrichten Frauen. Und im Gegenzug erzielen sie im Verlauf eines Erwerbslebens 43% weniger Einkommen als Männer.

Nein, werte Anwesende, es ist überdeutlich: Hierzulande muss hart, viel und ungleich gearbeitet werden. Und doch müssen wir uns herrenhafte Vorhaltungen anhören, wir arbeiteten zu wenig.

Das sagen uns Leute, die ernsthaft glauben, ihre eigene Arbeit sei mehr als zehnmal mal so viel wert wie die anderer Menschen. Das sagen uns Leute, die gar nicht wissen, was sie da verlangen, weil zu jenem obersten Schweizer Prozent gehören, das 44% aller Vermögen besitzt. Das sagen uns Leute, die finden: Die Arbeit von sehr Wenigen sei auch dann einen stolzen zweistelligen Milliardenbetrag wert, wenn wenig später für das groteske Resultat dieser Arbeit der Staat mit einem dreistelligen Milliardenbetrag geradestehen muss.

Diese Unverfrorenheiten haben System. «Menschen mal Zeit» fordert der Arbeitgeberverband für sich ein. Er fordert es, er hat es gefordert und er wird es auch in Zukunft fordern. Deshalb war, ist und bleibt unsere Losung: «Den Menschen mehr Zeit.»

Diese Losung müssen wir in diesem Jahr laut vertreten. Wir haben keinen Grund zu verzagen. Jede einzelne Million, die die Wirtschaftsverbände und der Bauernverband in ihre Anzeigen reinbuttern, ist nicht bloss ein Zeichen ihrer Stärke. Denn alle diesen Millionen zusammen sind das Mass ihrer Unsicherheit. Ihrer Unsicherheit darüber, ob die Menschen in diesem Land alle ihre Forderungen wirklich auf Dauer hinnehmen werden. Ihrer Unsicherheit darüber, ob die Menschen nicht verstärkt anfangen werden, Fragen zu stellen. Fragen, auf welche die sogenannte Wirtschaft keine wahrheitsgetreue Antwort geben will. Denn ihr Ansinnen möchte sie nicht offenlegen. Dieses Ansinnen ist schlicht der Erhalt einer Ordnung, in dem die Allerwenigsten über den von allen erarbeiteten Wohlstand verfügen sollen.

Was für ein Vorteil also für uns, dass wir unsere Ansinnen offen sagen, zu ihnen stehen können und uns solidarisch zu ihnen bekennen wollen. Heute, morgen und solange es nötig bleibt, bis jede Arbeit den ihr zukommenden Stellenwert bekommt und die Menschen frei und gleichberechtigt über ihre Zeit verfügen können. Es lebe der 1. Mai!

 

 

 

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