«Wir dachten an ein Attentat»

22. Juli 2016

Christina Bürgi Dellsperger ist für die Schweizer Botschaft in der Türkei tätig. Wie sie den Putschversuch der vergangenen Woche erlebt hat, schildert sie im Gespräch.

Christina Bürgi Dellsperger, Sie sind mitten in Ankara. Wie geht es Ihnen?
Christina Bürgi Dellsperger: Mir geht es gut.

Wo waren Sie in der besagten Nacht auf Samstag, als der Putsch startete?
Bürgi: Mein Mann und ich wollten den Abend nach einem Restaurantbesuch auf der Terrasse unserer Wohnung ausklingen lassen, als wir um zirka 22.10 Uhr ungewohnte Flugbewegungen festgestellt haben. Wir haben rasch bemerkt, dass es sich um zwei Militärflugzeuge handeln musste, die über Ankara kreisten. Nach kurzer Zeit waren keine Zivilflugzeuge mehr zu sehen.

Wie ging es danach weiter?
Bürgi: Wir dachten zuerst an ein Attentat und konsultieren sofort relevante Twitterseiten. Als sich der Verdacht auf einen Putsch verfestigte, traf sich unser Krisenstab, dem vier Schweizer und drei Lokalangestellte angehören, auf der Botschaft, und wir begannen, Situationsberichte in die Schweiz zu schicken. Die ganze Nacht durch bis zirka um 9 Uhr in der Frühe hörten wir Kampfflugzeuge, die zum Teil in Überschallgeschwindigkeit über die Stadt flogen. Wir hörten Maschinengewehre, Granaten und anderes.

Waren Sie zu irgendeinem Zeitpunkt in Gefahr?
Bürgi: Da ich mich ja in der Botschaft aufhielt, welche sich nicht in unmittelbarer Nähe strategisch wichtiger Gebäude befindet und geschützt ist, waren wir nicht ein Ziel. Im Nachhinein kann ich sagen, dass wir uns nicht in Gefahr befunden haben.

Dennoch war es eine besondere oder gefährliche Situation. Hatten Sie Angst?
Bürgi: Nein, erstaunlicherweise nicht. Man weiss selber nie, wie man in einer Krisen- oder Gefahrensituation reagieren wird, bis man sich in einer befindet. Wir wurden nicht angegriffen, wir fühlten uns in der Botschaft geschützt und verliessen sie auch nicht. Mein Mann war bei mir, weil er mit mir kurz vor Mitternacht zur Botschaft gefahren war und aus Sicherheitsgründen geblieben war. Also musste ich mir um ihn – und er sich um mich – keine Sorgen machen.

Und Ihre Familie und Freunde in der Schweiz hatten Sie Kontakt zu Ihnen?
Bürgi: Ich erhielt diverse Mails und SMS und habe selber auch sehr rasch meine nächsten Familienmitglieder schriftlich kontaktiert, um sie zu beruhigen, falls sie über die Situation überhaupt informiert waren, denn es war ja nachts.

Nun ist der Putsch gescheitert. Die Regierung wieder an der Macht, und es wird über die Wiedereinführung der Todesstrafe diskutiert. Wie ist die Stimmung in Ankara?
Bürgi: Am Samstagabend, als wir wieder in unserer Wohnung waren, fuhr ein kleiner Autokonvoi mit viel Gehupe und türkischen Fahnen an unserem Haus vorbei. Es erinnerte mich an ähnliche Bilder nach einem gewonnenen Fussballmatch. Sonntags blieben tagsüber die Strassen sehr leer. Mittlerweile hat sich die Situation normalisiert, wobei ich den Eindruck habe, dass die überwiegende Mehrheit, also die normalen Bürger, sich ausserhalb der Arbeit vorwiegend zu Hause aufhalten.

Welche Gefühle lösen die aktuellen Entwicklungen bei Ihnen aus? Sind Sie besorgt?
Bürgi: Ja, ich bin besorgt. Besonders beunruhigen mich die Diskussionen über eine allfällige Wiedereinführung der Todesstrafe.

Wie geht es für Sie nun weiter? Werden Sie in Ankara bleiben oder sind Sie alarmiert und jederzeit bereit, auszureisen?
Bürgi: Ich werde meine Arbeit als Diplomatin in Ankara weiterführen.

INTERVIEW SAMANTHA TAYLOR samantha.taylor@zugerzeitung.ch

 

ZUR PERSON st. Christina Bürgi Dellsperger ist Zugerin und wohnte lange Zeit in Risch. Die 56-jährige Diplomatin lebt zusammen mit ihrem Mann seit August 2015 in Ankara. Seit dem 1. September des letzten Jahres ist sie Chefin der Sektion Wirtschaft und Kultur der Schweizer Botschaft in Ankara. Zum Zeitpunkt des Putschversuches war sie aufgrund der Auslandabwesenheit des Botschafters Chargée d’affaires, also zuständig für die Botschaft. In Zug kandidierte sie im vergangenen Jahr für die SP für einen Sitz im Nationalrat.